Martin Amanshauser

Gilda auf Zahnstocher

Ja, wir wissen, Baskenland ist nicht Spanien, und Pintxos sind keine Tapas – aber die besten Vorspeisen der Welt! Ein Lokalaugenschein aus der Gourmet-Welthauptstadt Donostia-San Sebastián.

Eine colarote Zahnradbahn führt auf den Monte Igueldo, den Hausberg San Sebastiáns. Von hier oben wirkt die Metropole mit ihren grünen Hügeln in der Biskayabucht ein bisschen wie eine zusammengedrückte Ausgabe von Rio de Janeiro. „Ein paar Häuserreihen hinter dem Strand bin ich aufgewachsen“, erzählt Arantxa, heute 60, „und ich kann mich noch gut an die Picnics der reichen Leute erinnern!“ Weiß behandschuhte Butler überzogen Holztische mit Tischtüchern, rückten Sonnenschirme zurecht, tischten atemberaubende Mengen von Kleinigkeiten auf, Weinkaraffen, Wasser, Tee. „Die Klassenunterschiede waren in den Fünfzigern enorm. Als Mädchen aus kleinen Verhältnissen warf man da einen kurzen Blick drauf und spielte woanders – aber im Rückblick bin ich überzeugt, dass Pintxos serviert wurden.“

Es gehört zum Kulturkampf, dass alle Basken ununterbrochen betonen: Es sind garantiert keine Tapas! Pintxos, das ist tellerchengewordene baskische Philosophie, entstanden aus den Kochkünsten der„txokos“, privatclubartige Kochbruderschaften aus dem 19. Jahrhundert, die in die Bars überschwappten. Und an keinem Ort der Welt floriert die Pintxo-Kultur so ungehemmt wie in Donostia-San Sebastián, so der offizielle Name der kulinarischen Welthauptstadt, in der sich 16 Michelinsterne auf engstem Raum drängen. Heute gibt es zwar keine Butler mehr, die Picnics auf Tabletts tragen, doch jede Bar, die etwas auf sich hält, bietet Pintxos an.

„Wir wären sehr enttäuscht, wenn Sie zu Hause herumerzählen, Sie hätten Tapas gegessen“, predigt Arantxa, „Pintxos sind vielfältiger und raffinierter.“ Nun ja – auf den ersten Blick sehen die Pintxos den Tapas ziemlich ähnlich. Doch das Angebot einer Pintxo-Bar kann Thekenbretter nach unten biegen. Unter den Appetithäppchen (zwischen 1,50 und 4 Euro) befinden sich mit Speck gefüllte Tortilla-Scheiben, deep-fried-herausgebackene Garnelen, Pilztörtchen, Gänseleber in Apfelkompott, Stockfisch-Ravioli, Patata Brava mit Mayonnaise (als höflicher Besucher nur nicht damit herausplatzen, dass es sich um ein populäres Tapas-Gericht handelt!), Fischkuchen aus Seeteufel, Kartoffel, Karotte, Erbsen und Ei, aber auch frische Heringsbrötchen mit Zwiebel.

Eingeschenkt wird dazu in hohem Bogen der lokale Txakolí-Wein, vom Geschmack her wohl am nächsten dem portugiesischen Vinho Verde – jung, leicht, fruchtig und eiskalt serviert. „Weiterziehen in die nächste Bar”, kommandiert Arantxa nach zwei Getränken. Der Fachausdruck für das Ritual des Barhoppings heißt „txikiteo“, der Zug beginnt in der Innenstadt (parte vieja) und führt manchmal bis in die Vorstädte.

Als vornehmstes Pintxo gilt der halbierte Seeigel, als klassischstes ein Thunfischbrötchen mit russischem Salat und Garnele. Das simpelste, „Gilda“, ist Beginn und Krönung der Pintxo-Kultur. Gilda besteht aus einem dünnen Holzspieß, auf dem eine Olive, eine Anchovi, ein gekringelter Pfefferoni und noch eine Olive stecken: ein Pintxo wie aus einem Traum, nach dessen salzhaltigem Genuss man erfahrungsgemäß mehr Txakolí bestellen wird.

Gilda bezieht sich auf die gleichnamige Gilda im gleichnamigen Film (1946), von Rita Hayworth gespielt – legendär wegen dem „Handschuh-Striptease“, in dem die singende Schauspielerin sich lasziv eines schwarzen Langhandschuhs entledigt. Der Strip wurde vom prüden Franco-Spanien zensuriert, was offenbar die Phantasie der Basken anstachelte. Das Pintxo Gilda wurde in der Bar Casa Vallés erfunden – es ist, argumentiert Arantxa, „süß, salzig und pikant, ganz wie Rita Hayworth.“

Pintxos in Donostia-San Sebastián:

Bernardo Etxea, Calle del Puerto 7, der Klassiker, www.bernardoetxea.com, Calle Puerto, 7;  Bar Restaurante Casa Vallés, Reyes Católicos 10, der Erfinder der Gilda, www.barvalles.com; Bergara, General Artetxe 8, www.pinchosbergara.com; La Cuchara de San Telmo, Calle 31 de Agosto 28 / Corredor de San Telmo, www.lacucharadesantelmo.com; Bar Txepetxa, Calle Pescadería, 5; A fuego negro, Calle 31 de Agosto 31, modernistischer Laden mit Vitrinen, kompliziertere Pintxos werden frisch zubereitet, www.afuegonegro.com.